Wie Oma Hildes letzter Adventskalender uns lehrte, die Zeit anzuhalten und Weihnachten wiederzufinden

Gegen Nachmittag wurde ich nervös. Das war er nun, der Heilige Abend. Der erste ohne sie. Die Leere an ihrem Platz am Tisch fühlte sich an wie ein schwarzes Loch. Ich hatte Kartoffelsalat gemacht – rheinische Art mit Mayonnaise, so wie sie es mochte und Würstchen gekauft. Alles war bereit. Und doch fehlte das Wichtigste.

Felix schlich schon den ganzen Tag um den Adventskalender herum. Das 24. Säckchen, das größte von allen, hing schlaff herab. Wir hatten nichts hineingetan. Ich hatte gedacht, wir würden vielleicht gemeinsam einen Brief an Oma schreiben und ihn hineinstecken, bevor wir zur Bescherung übergingen.

„Sollen wir?“, fragte ich und nickte zum Kalender.

Felix ging langsam darauf zu. Er trug sein bestes Hemd, das ihm an den Ärmeln schon etwas zu kurz war. Er griff nach dem roten Filzbeutel mit der goldenen 24.

„Er fühlt sich anders an“, sagte er plötzlich und runzelte die Stirn.

„Wie meinst du das?“

„Da ist… da ist was im Futter.“

Ich trat näher. Mein Herz begann schneller zu schlagen. Ich hatte den Kalender beim Aufhängen nur flüchtig berührt, ihn nie genau untersucht. Felix tastete den Boden des Säckchens ab.

„Da ist was eingenäht!“, rief er aufgeregt.

„Mama, gib mir eine Schere!“

Ich holte die Nagelschere aus dem Bad. Meine Hände zitterten wieder, genau wie vor achtzehn Tagen. Vorsichtig trennte ich die groben Stiche am Boden des Filzbeutels auf.

Oma hatte hier nicht ihre übliche Sorgfalt walten lassen; es war mit einem dicken, roten Faden hastig zugenäht worden.

Etwas Schweres, Kleines rutschte heraus und fiel in Felix’ Handfläche. Und dann noch ein Stück von dem cremefarbenen Briefpapier. Es war ein Schlüssel. Ein kleiner, altmodischer Messingschlüssel. Felix sah mich mit großen Augen an.

„Wofür ist der?“

Ich starrte den Schlüssel an. Ich kannte ihn. Ich hatte ihn seit Jahren nicht gesehen, aber ich wusste sofort, wo er hingehörte.

„Lies den Zettel“, sagte ich heiser.

Felix entfaltete das Papier. Es war kürzer als der Brief vom Nikolaustag. Die Schrift war noch krakeliger, fast nur noch Wellenlinien, als hätte sie jede Unze Kraft in diese wenigen Worte legen müssen.

„Für den Fall, dass ihr es bis hierher geschafft habt, ohne euch gegenseitig umzubringen: Gut gemacht. Der Schlüssel ist für die blaue Kiste ganz oben auf meinem Kleiderschrank. Die, von der ich Julia immer gesagt habe, es seien nur langweilige Steuerunterlagen drin. Frohe Weihnachten, meine Lieben. P.S.: Felix, schau im Eisfach nach. Ganz hinten, hinter dem Spinat.“

Felix quietschte auf.

„Das Eisfach!“

Er rannte in die Küche. Ich hörte das Rumpeln der Gefrierschranktüren, das Klappern von Tupperdosen und dann einen Triumphschrei. Er kam zurückgerannt, in der Hand eine große, frostüberzogene Tafel seiner Lieblingsschokolade – die teure Schweizer Sorte mit den ganzen Haselnüssen, die ich ihm fast nie kaufte.

„Sie haben einen Supermarkt!“, rief er strahlend und drückte die kalte Tafel an seine Brust.

„Sie haben da oben wirklich einen Supermarkt!“

Ich lachte, und Tränen liefen mir über das Gesicht. Natürlich hatte sie vorgesorgt. Selbst im Angesicht des Todes hatte sie daran gedacht, Schokolade hinter dem Spinat zu verstecken. Das war Hilde. Pragmatisch, fürsorglich und immer für eine Überraschung gut.

„Komm“, sagte ich und nahm den Schlüssel.

„Lass uns die Kiste holen.“

Omas Wohnung war aufgelöst worden, aber ich hatte ein paar Möbelstücke und Kisten zu uns geholt, die noch immer unausgepackt im Gästezimmer standen. Die blaue Holzkiste stand tatsächlich ganz oben auf einem Stapel. Wir trugen sie ins Wohnzimmer und stellten sie unter den Weihnachtsbaum. Das Kerzenlicht spiegelte sich im alten Lack.

Der Schlüssel passte perfekt. Mit einem leisen Klick sprang das Schloss auf. Ich hob den Deckel an. Ein Duft entströmte der Kiste, der so intensiv nach Oma roch – nach ihrem Parfüm „Tosca“, nach Lavendel und altem Papier –, dass mir fast die Knie weich wurden.

Darin war kein Geld. Kein Testament. Keine Juwelen. Die Kiste war bis zum Rand gefüllt mit Kassetten. Alte Audiokassetten, beschriftet mit Jahreszahlen. 1988. 1995. 2003. Und ganz oben lag ein Diktiergerät, eines von diesen alten Dingern, die sie früher für ihre Arbeit im Büro benutzt hatte.

Zitternd nahm ich das Diktiergerät heraus. Es lag eine Kassette darin. Auf dem Etikett stand nur: Für heute.

Ich drückte auf Play. Es rauschte und knackte, und dann erfüllte ihre Stimme den Raum. Nicht die schwache, krächzende Stimme der letzten Wochen. Sondern ihre Stimme von früher – kräftig, warm und voller Leben.

„Hallo ihr zwei“, sagte die Stimme aus dem kleinen Lautsprecher.

„Wenn ihr das hört, ist es Heiligabend. Und ich wette, Julia hat wieder dieses Gesicht gemacht, als sie den Baum geschmückt hat. Dieses kritische Gesicht, ob auch alles perfekt ist.“

Ich schniefte laut auf. Felix kicherte.

„Ich wollte euch etwas schenken, das bleibt“, fuhr die Stimme fort.

„In dieser Kiste sind Geschichten. Ich habe sie im letzten Jahr aufgenommen, als ich nachts nicht schlafen konnte. Geschichten über deinen Opa, Julia. Geschichten darüber, wie du als Baby warst. Geschichten über dich, Felix, und wie du das erste Mal ‚Oma‘ gesagt hast. Es ist meine Stimme. Damit ihr sie nicht vergesst.“

Eine Pause auf dem Band. Man hörte sie atmen, ein schweres, rasselndes Geräusch, das verriet, wie viel Kraft sie das Sprechen gekostet hatte.

„Weihnachten ist nicht das Essen“, sagte sie dann leiser.

„Und es sind nicht die Geschenke. Weihnachten ist das Gefühl, dass niemand wirklich weg ist, solange wir uns Geschichten erzählen. Also… hört mir zu. Und dann erzählt euch eure eigenen Geschichten. Esst die Schokolade. Und Julia… trink ein Glas Rotwein für mich mit. Aber den Guten, nicht die billige Plörre.“

Ein letztes leises Lachen, dann ein Klicken. Das Band stoppte.

Es war still im Wohnzimmer. Draußen peitschte der Wind nun doch Schneeflocken gegen die Scheibe, dicke, nasse Flocken, die im Licht der Straßenlaternen tanzten. Felix brach ein Stück der eiskalten Schokolade ab und schob es mir in den Mund. Sie schmeckte süß und nussig und nach Trost.

„Sie ist gar nicht weg“, sagte Felix leise und nahm eine der Kassetten aus der Kiste. Er betrachtete sie wie einen Schatz.

„Wir können sie einfach anschalten.“

„Ja“, sagte ich und zog ihn fest in meinen Arm. Der Kloß in meinem Hals hatte sich gelöst. Die Angst vor dem „unperfekten“ Fest war verschwunden.

Ich stand auf, holte zwei Gläser und die Flasche Rotwein, die ich eigentlich für Besuch aufgehoben hatte – einen wirklich guten Tropfen. Ich schenkte mir ein Glas ein und Felix ein Glas Traubensaft. Dann legten wir die erste Kassette ein.

Omas Stimme begann zu erzählen, eine Geschichte von einem verschneiten Winter im Jahr 1965, von einer Rodelpartie am Rheinufer und einem verlorenen Handschuh. Wir saßen unter dem schiefen Weihnachtsbaum, aßen Schokolade vor dem Abendessen und lauschten.

Das Handy blinkte in der Ecke des Zimmers kurz auf – eine automatische Benachrichtigung, vielleicht eine Weihnachtsmail vom Büro. Ich beachtete es nicht. Es war bedeutungslos.

Hier drinnen, im warmen Schein der Kerzen, zwischen den Worten meiner Mutter und dem ruhigen Atmen meines Sohnes, war die Zeit stehengeblieben. Es war kein perfektes Weihnachten wie in den Magazinen. Es war traurig, und es war schön, und es war echt. Es war genau das Weihnachten, das wir brauchten.

„Weißt du was, Mama?“, murmelte Felix später, den Mund voller Schokolade, während Omas Stimme im Hintergrund leise weitersprach.

„Was denn, mein Schatz?“

„Das sechste Türchen war super. Aber das vierundzwanzigste… das ist der Hammer.“

Ich küsste ihn auf die Stirn.

„Ja“, flüsterte ich und hob mein Glas in Richtung des Diktiergeräts.

„Frohe Weihnachten, Mama.“

Draußen legte sich der erste Schnee wie eine weiche, weiße Decke über die Dächer von Flingern und dämpfte alle Geräusche der Stadt, bis nur noch unsere kleine Welt übrig blieb.

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