Die Stille unter der Wolldecke hielt nicht ewig, aber sie hielt lange genug, um die Welt da draußen ein kleines bisschen zu verändern.
Als wir schließlich wieder auftauchten, war das graue Licht des Düsseldorfer Vormittags immer noch dasselbe, aber die Hektik in der Küche wirkte plötzlich fremd, wie ein Überbleibsel aus einem Leben, das nicht mehr ganz unseres war.
Der Regen hatte nachgelassen und hinterließ nur noch feuchte Schlieren auf den Fensterscheiben. Ich schälte mich aus der Decke, die Glieder steif, aber das Herz seltsam leicht. Mein Blick fiel auf das ausgeschaltete Handy auf dem Tisch. Es war ein schwarzer Monolith, der stumm vorwurfsvoll da lag.
„Mama?“
Felix fragte es leise. Er strich glatt, was von seinem Schlafanzug noch zu retten war.
„Musst du jetzt los? Die Welt retten?“
Ich nahm das Handy, wog es in der Hand und schaltete es wieder ein. Sofort begann es zu vibrieren, eine Kaskade aus verpassten Anrufen und Nachrichten. Drei von meinem Chef, zwei von der Kita-Leitung wegen einer Elternbeiratssitzung, eine von meiner Schwester aus München.
Früher hätte dieser Ansturm meinen Puls auf hundertachtzig getrieben. Jetzt sah ich auf das Display und dachte an Omas zittrige Schrift. Atmet.
„Nein“, sagte ich, und meine Stimme klang fester, als ich mich fühlte.
„Die Welt muss warten. Und der Nikolaus hat uns ja eine Aufgabe gegeben.“
Ich wählte die Nummer meines Büros. Als mein Chef abnahm, atemlos und bereit, mir eine Standpauke über Pünktlichkeit und Professionalität zu halten, unterbrach ich ihn sanft.
„Herr Mahler, ich komme heute nicht. Und morgen auch nicht. Ich nehme mir den Rest der Woche frei.“
Es entstand eine Pause am anderen Ende der Leitung, die so lang war, dass ich das Rauschen der Verbindung hören konnte.
„Aber Julia… das Meeting… das Projekt…“
„Meine Mutter ist vor drei Wochen gestorben, Herr Mahler. Und ich habe noch nicht einmal Zeit gehabt, ihre Kaffeetasse wegzuräumen. Ich bin Montag wieder da.“
Ich legte auf, bevor er antworten konnte. Meine Hände zitterten wieder, aber diesmal nicht vor Stress, sondern vor einer Art wilder Erleichterung. Felix sah mich mit offenem Mund an.
„Wow. Du hast dem Chef Nein gesagt?“
„Ja“, antwortete ich und zog ihn an mich.
„Das habe ich.“
Die Tage nach dem 6. Dezember waren seltsam. Sie waren wie eine Insel in der Zeit. Der Adventskalender hing an der Wand, ein roter, filziger Riese, der uns stumm beobachtete. Jeden Morgen schlich Felix dorthin, seine kleinen Finger tasteten hoffnungsvoll über die verbliebenen Säckchen. Die Sieben war leer. Die Acht war leer. Die Neun auch.
„Sie hat es wohl nicht mehr geschafft“, sagte er am Morgen des zehnten Dezembers tapfer, obwohl ich sah, wie seine Schultern ein wenig hingen.
„Sie war ja auch sehr krank.“
„Komm her“, sagte ich und hob ihn auf die Küchenanrichte, genau dort, wo Oma Hilde immer gesessen hatte, wenn sie Kartoffeln schälte.
„Weißt du was? Oma hat uns den Startschuss gegeben. Aber den Rest des Weges, den müssen wir jetzt alleine laufen. Wir füllen den Kalender nicht mit Schokolade. Wir füllen ihn mit Erinnerungen.“
Und so begann unser neues Ritual. Anstatt morgens etwas herauszuholen, steckten wir abends etwas hinein. In die Zehn steckten wir ein Foto vom Weihnachtsmarktbesuch am Rathaus, wo wir uns mit klebrigen Reibekuchen vollgestopft hatten, bis uns schlecht war.
In die Elf kam ein Tannenzweig, den wir bei einem Spaziergang am Rhein gefunden hatten, als der Wind so kalt war, dass er uns Tränen in die Augen trieb. In die Zwölf legte Felix eine Zeichnung von Oma, wie sie auf einer Wolke sitzt und Schokolade isst.
Die Wohnung in Flingern veränderte sich. Der Geruch nach kaltem Kaffee wich dem Duft von Tannennadeln und Bienenwachs. Ich fand Kisten im Keller, die ich seit dem Umzug nicht geöffnet hatte.
Omas alter Weihnachtsschmuck. Zerbrechliche Glaskugeln aus den fünfziger Jahren, die so dünn waren wie Seifenblasen, und hölzerne Engel, denen teilweise ein Flügel fehlte. Jedes Stück, das wir auswickelten, erzählte eine Geschichte.
„Den hier“, sagte ich und hielt einen leicht verbeulten silbernen Vogel hoch, „hat Oma gekauft, als ich so alt war wie du. Wir hatten kein Geld damals, Papa war gerade weg, und sie hat extra Überstunden in der Näherei gemacht, nur für diesen einen Vogel.“
Felix nahm den Vogel fast andächtig in seine Hände.
„Dann bekommt er den besten Platz. Ganz oben, wo er alles sehen kann.“
Doch so schön diese Momente waren, die Trauer war ein unberechenbarer Gast. Sie kam nicht mehr als die große Flutwelle wie am Nikolaustag, sondern eher wie der feine Nieselregen draußen auf der Birkenstraße.
Eines Abends, es war der 18. Dezember, saß ich auf dem Boden im Wohnzimmer und versuchte, Omas altes Plätzchenrezept zu entziffern. Vanillekipferl, stand da in ihrer energischen Handschrift. Nicht zu viel kneten, sonst werden sie zäh!
Plötzlich übermannte es mich. Der Geruch von Vanille und Mehl, das leise Summen des Kühlschranks, die Dunkelheit vor dem Fenster – alles schrie nach ihr. Ich vermisste ihr Lachen, das immer ein bisschen zu laut war. Ich vermisste ihre Art, mir ungefragt Ratschläge zu geben, die mich wahnsinnig machten, aber am Ende immer richtig waren.
Felix, der am Tisch malte, merkte es sofort. Er kam zu mir, setzte sich wortlos auf meinen Schoß und legte seine Hand auf meine Wange. Seine Hand war klein und warm und roch nach Buntstiften.
„Sie fehlt mir auch“, flüsterte er.
„Mir fehlt, dass sie mir sagt, was ich tun soll“, gab ich zu.
„Ich habe Angst, dass ich Weihnachten verhaue. Dass es nicht… richtig wird ohne sie.“
Felix überlegte kurz. Er hatte Omas dunkle Augen, und in diesem Moment auch ihre entwaffnende Ehrlichkeit.
„Aber Mama“, sagte er ernst.
„Es ist doch schon richtig. Wir haben die Decke. Wir haben die Kerze. Und die Plätzchen sind zwar bestimmt krumm und schief, wenn wir sie backen, aber Oma hat immer gesagt: ‚Im Magen kommt eh alles zusammen.‘“
Ich musste lachen, ein nasses, schluchzendes Lachen.
„Das hat sie wirklich gesagt.“
Der 24. Dezember kam schneller, als ich erwartet hatte. Der Himmel über Düsseldorf war schwer und dunkelgrau, als würde er Schnee versprechen, den er dann doch nicht hielt – stattdessen gab es diesen durchdringenden, nasskalten Wind, der durch jede Ritze der Altbauwohnung kroch.
Wir hatten den Baum geschmückt. Er war etwas schief, und die Spitze neigte sich bedenklich nach links, aber er war übersät mit Omas Geschichte und unserer Gegenwart. Der silberne Vogel thronte an der Spitze, ein Wächter der Erinnerung.
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