Niemand ahnte, dass Oma Hilde das sechste Türchen gefüllt hatte, bevor sie starb bis Felix heute Morgen statt Schokolade ihre letzte, zittrige Wahrheit fand.
Der Regen peitschte gegen die Fensterscheiben unserer Altbauwohnung in Düsseldorf-Flingern. Es war dieser typische, graue Dezembermorgen, an dem es gar nicht richtig hell werden wollte. In der Küche roch es nach kaltem Kaffee und purer Hektik.
Ich war schon wieder spät dran. Mein Handy blinkte unaufhörlich auf dem Küchentisch – E-Mails, Termine, der ganz normale Wahnsinn einer alleinerziehenden Mutter, die versucht, vor Weihnachten noch die Welt zu retten.
„Mama? Der Nikolaus war gar nicht da“, rief Felix aus dem Wohnzimmer. Seine Stimme klang klein, belegt vor Enttäuschung.
Ich erstarrte mit der Kaffeetasse in der Hand. Der 6. Dezember. Nikolaustag. Wie konnte ich das vergessen? Die geputzten Stiefel standen leer vor der Wohnungstür. Der Stress der letzten Wochen, die Beerdigung meiner Mutter, der endlose Papierkram – all das hatte mein Gedächtnis wie eine Festplatte gelöscht.
„Aber guck mal, Mama“, rief er plötzlich aufgeregter. „Im Kalender! Im sechsten Säckchen ist was!“
Ich lief ins Wohnzimmer. Felix, mein achtjähriger Sohn mit den verstruppelten braunen Haaren, stand vor dem riesigen Adventskalender aus rotem Filz, den meine Mutter – seine geliebte Oma Hilde – vor über zwanzig Jahren genäht hatte. Sie war vor drei Wochen gestorben. Ich hatte den Kalender nur aus Gewohnheit und Nostalgie aufgehängt, fest überzeugt davon, dass er leer war. Ich hatte schlichtweg keine Kraft gehabt, ihn zu befüllen.
Aber Felix hielt etwas in der Hand. Keine Schokolade. Kein Lego. Es war ein zusammengefaltetes Stück Briefpapier. Das gute, cremefarbene Papier mit dem Wasserzeichen, das Mutter nur für ganz besondere Anlässe benutzte.
„Da steht mein Name drauf“, flüsterte Felix. „Und deiner.“
Mir wurde eiskalt. Ich erkannte die Schrift sofort. Sie war krakelig, kaum leserlich, die Buchstaben tanzten unruhig über das Papier.
Die Schrift einer Frau, deren Hände von der Krankheit und dem nahenden Ende zitterten. Sie muss diesen Zettel in den Kalender gesteckt haben, als ich sie das letzte Mal für eine Stunde allein in ihrer Wohnung ließ, um Medikamente zu holen.
„Lies du, Mama“, sagte Felix und drückte mir das Papier in die Hand. „Ich kann das Gekrakel nicht lesen.“
Meine Hände zitterten mehr als ihre Schrift damals, als ich den Brief entfaltete. Ich ließ mich schwer auf das alte Sofa fallen. Draußen hörte man die Straßenbahn quietschend über die Gleise der Birkenstraße rattern, aber hier drinnen war es totenstill.
Ich begann zu lesen, und mit jedem Wort hörte ich ihre Stimme in meinem Kopf. Etwas streng, typisch rheinisch direkt, aber voller unendlicher Wärme.
„Mein lieber Felix, meine sture, geliebte Julia,
Wenn ihr das lest, feiere ich den Nikolaus schon oben bei Opa. Es tut mir leid, mein kleiner Schatz. Heute gibt es keine Schokolade. Der Weg zum Supermarkt war für meine alten Beine einfach zu weit.
Aber ich habe euch etwas eingepackt, das viel teurer ist als alles, was man auf der Königsallee kaufen kann.
Julia, mein Kind, erinnerst du dich an den letzten Nikolaustag? Du hast geweint, während du den Abwasch gemacht hast. Du hast geschrien, dass der Tag nicht genug Stunden hat. Du hast Felix in sein Zimmer geschickt, weil du ‚funktionieren‘ musstest. Ich saß in meinem Sessel und konnte nichts tun, außer zuzusehen, wie dir die Zeit durch die Finger rinnt wie der Sand im Rhein bei Niedrigwasser.
Ich habe nicht mehr viel Zeit. Aber ihr habt sie.
Euer Nikolausgeschenk ist eine Aufgabe: Julia, leg das verdammte Handy weg. Lass die Arbeit liegen. Die Welt geht nicht unter, wenn du heute nicht perfekt funktionierst. Felix, hol die dicke graue Wolldecke. Macht die Lichter aus. Zündet nur die Kerze auf dem Tisch an. Und dann schenke ich euch fünf Minuten. Fünf Minuten, in denen ihr absolut nichts tut. Nicht reden. Nicht planen. Nicht sorgen.
Haltet euch einfach nur fest. Atmet. Spürt, dass ihr lebt. Das ist das Einzige, was ich mir wünsche, jetzt, wo ich es nicht mehr kann.
Ich hab euch lieb. Oma.“
Ein schwerer Kloß bildete sich in meinem Hals, so groß, dass ich kaum atmen konnte. Die Tränen kamen nicht langsam; sie brachen aus mir heraus wie ein Dammbruch nach all den Wochen des „Starkseins“. Ich sah auf mein Handy, das auf dem Tisch vibrierte. „Dringendes Meeting“ stand auf dem Display.
Ich sah zu Felix. Er stand da, mit großen Augen, unsicher, ob er Angst haben oder mich trösten sollte. Er trug noch seinen Schlafanzug mit den Raumschiffen. Wann hatte ich ihn das letzte Mal wirklich gesehen? Nicht nur flüchtig angesehen, während ich ihm das Pausenbrot in den Ranzen stopfte, sondern ihn wirklich wahrgenommen?
Ich griff nach dem Handy. Und schaltete es aus. Komplett aus.
Dann nahm ich die dicke Wolldecke, die Oma erwähnt hatte. Ich machte das Deckenlicht aus. Die graue Düsseldorfer Morgenluft tauchte das Zimmer in ein diffuses Halbdunkel. Ich zündete die Kerze auf dem Adventskranz an.
„Komm her“, flüsterte ich, meine Stimme noch belegt.
Felix kletterte zu mir aufs Sofa. Ich zog die Decke über uns beide, wir bauten uns eine kleine Höhle gegen die Welt da draußen. Er roch nach Schlaf und Kindheit. Er legte seinen Kopf an meine Brust, und ich legte mein Kinn auf seinen Haarschopf.
Wir sagten nichts. Eine Minute verging. Ich hörte seinen Atem. Ein, aus. Zwei Minuten. Ich spürte seinen kleinen Herzschlag, der beruhigend gegen meinen Rippenbogen pochte. Drei Minuten. Der Stress, die Angst vor der Zukunft, die Trauer – alles wurde leiser. Da war nur noch dieses warme Gewicht in meinen Armen.
In der Stille begriff ich, was Oma uns geschenkt hatte. Sie hatte uns nicht nur Zeit geschenkt. Sie hatte mir die Erlaubnis gegeben, für einen Moment nicht die effiziente Julia sein zu müssen, sondern einfach nur eine Mutter, die da ist.
Nach einer Ewigkeit, oder vielleicht waren es nur die fünf Minuten, hob Felix den Kopf. „Mama?“, flüsterte er in die Stille. „Ich glaube, das ist das beste Geschenk. Aber nächstes Jahr wünsche ich mir von Oma im Himmel trotzdem wieder Schokolade, okay? Meinst du, die haben da oben einen Supermarkt?“
Ich lachte unter Tränen und drückte ihn so fest, dass er quiekte. „Ganz bestimmt, Spatz. Ganz bestimmt.“
Draußen regnete es weiter auf den Asphalt, aber in unserem kleinen Wohnzimmer in Flingern, unter der alten Wolldecke meiner Mutter, war endlich Weihnachten angekommen.
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