Jeden Morgen um 7:15 Uhr: Das rührende Geheimnis, das im alten grünen Sessel versteckt lag

Als ich endete, herrschte Stille. Nur das ferne Rauschen der Autos auf der Straße war zu hören.

Lena weinte jetzt offen, aber es war kein verzweifeltes Weinen mehr. Es war ein befreiendes Lösen.

„Er wusste es“, flüsterte sie. „Er wusste, dass Barney zurückkommen würde.“

„Er wusste noch mehr“, sagte ich und sah die Flasche an. „Er wusste, dass niemand gerne alleine trinkt.“

Ich stand auf, ging in die Küche und holte zwei meiner besten Gläser. Die, die ich sonst nur für Gäste aufhob, die nie kamen.

Wir setzten uns. Ich nicht in den Sessel, sondern auf den Stuhl davor, Lena auf den Teppich. Ich entkorkte die Flasche.

Wir tranken auf Egon. Wir tranken auf Barney. Der Alkohol wärmte angenehm, und mit der Wärme kamen die Worte.

Lena erzählte mir von ihrer Referendariatszeit und dem Druck. Ich erzählte ihr von meiner Pensionierung und der Angst, unsichtbar zu werden.

Wir saßen dort, bis die Dämmerung einsetzte.

Und tatsächlich: Gegen 16 Uhr riss der Nebel über Heidelberg auf. Die tiefstehende Sonne brach durch die Wolken und traf genau das Fenster im Erker.

Das Licht flutete den Raum. Es traf den grünen Samt des Sessels und ließ die Staubkörner tanzen.

Aber diesmal wirkte der leere Sessel nicht mehr wie ein Vorwurf. Er wirkte wie ein Thron, der in goldenes Licht getaucht war.

„Herr Albers“, sagte Lena nach einer Weile und sah mich ernst an.

„Ja?“

„Es ist bald Weihnachten. Heiligabend.“

„Ja“, sagte ich und spürte den bekannten Stich. „Ein Dienstag.“

„Ich fahre nicht zu meinen Eltern“, sagte sie schnell.

„Sie fahren in den Urlaub. Ich wollte eigentlich hierbleiben und arbeiten. Aber…“

Sie blickte auf die Cognacflasche.

„Egon hat geschrieben, man soll nicht alleine trinken. Haben Sie… hätten Sie Lust, Heiligabend hier zu verbringen? Ich kann kochen.“

Ich sah sie an. Die junge Frau mit den Turnschuhen, die so verloren gewirkt hatte und nun hier saß, im Licht meines Erkers.

„Das würde mir sehr viel bedeuten“, sagte ich fest.

„Gut“, sagte sie und lächelte. Dann zögerte sie kurz. „Und… Herr Albers?“

„Ja?“

„Ich glaube, wir haben genug zusammen durchgemacht. Das ‘Herr Albers’ klingt irgendwie falsch. Ich bin Lena.“

Sie streckte mir die Hand hin. Ich ergriff sie. Sie war warm.

„Johannes“, sagte ich. „Ich heiße Johannes.“

Die Wochen bis Weihnachten vergingen anders als sonst. Die Stille in der Wohnung war nicht mehr dröhnend, sie war erwartungsvoll.

Ich kaufte Zutaten für ein Festmahl und sogar einen kleinen Adventskranz für den Tisch im Erker.

Barney kam nicht zurück. Jeden Morgen um 7:15 Uhr gab es diesen kurzen Moment des Vermissens. Aber ich verstand jetzt, was Egon gemeint hatte.

Ich war nicht allein in dieser Wohnung. Ich war der Hüter. Ich war derjenige, der das Licht im Erker bewachte.

Am Heiligabend schneite es. Echte, dicke Flocken, die Heidelberg in eine Postkarte verwandelten.

Lena stand pünktlich um 18 Uhr vor der Tür. Sie trug ein festliches Kleid und hielt eine Schüssel mit Kartoffelsalat in den Händen.

„Johannes, mach die Tür auf, es ist kalt!“, rief sie lachend.

Wir aßen an meinem kleinen Tisch. Wir tranken den Rest des Cognacs. Wir lasen uns gegenseitig aus Egons alten Aufzeichnungen vor.

Später am Abend saß ich dann doch im grünen Sessel. Lena hatte darauf bestanden.

„Der Platz darf nicht leer bleiben“, hatte sie gesagt. „Barney hätte gewollt, dass der Service weitergeht.“

Ich lehnte mich zurück. Der Samt war weich. Ich spürte die Wärme des Raumes, den Duft von Tannennadeln und Kerzenwachs.

Ich schloss die Augen.

Für einen kurzen Moment, ganz flüchtig, meinte ich, ein leichtes Gewicht auf meinen Beinen zu spüren. Eine vertraute Wärme.

Dazu ein leises, rasselnden Schnurren, wie ein altes Uhrwerk.

Ich öffnete die Augen nicht. Ich lächelte nur und legte meine Hand sanft auf die Lehne, genau dort, wo das Holz abgegriffen war.

„Frohe Weihnachten, Barney“, flüsterte ich in die Stille. „Frohe Weihnachten, Egon.“

Draußen wirbelte der Schnee durch die dunklen Gassen, aber hier drinnen brannte Licht.

Die Einsamkeit hatte ihre Schlüssel verloren. Sie passten nicht mehr in das Schloss dieser Wohnung.

Wir hatten es ausgetauscht – gegen etwas, das viel widerstandsfähiger war als altes Holz und Stein. Wir hatten ein Zuhause daraus gemacht.

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