Es ist wieder 7:15 Uhr. Die Zeit ist ein gnadenloses Uhrwerk, besonders in der Stille einer Heidelberger Altbauwohnung im Dezember.
Mein Blick wandert automatisch zur Wohnungstür. Das Holz ist dunkel und stumm. Kein Kratzen ist zu hören, kein heiseres, forderndes Maunzen, das mich aus meinen Gedanken reißt.
Es sind nun drei Wochen vergangen, seit wir Barney im Odenwald begraben haben. Aber die Phantomschmerzen meiner Routine sind noch immer da.
Ich nippe an meinem Filterkaffee. Er ist heiß, schwarz und schmeckt heute Morgen merkwürdig fad. Daneben liegt die Zeitung, doch die Buchstaben scheinen vor meinen Augen zu verschwimmen.
Der grüne Ohrensessel steht im Erker, gebadet in das graue, milchige Licht eines typischen Heidelberger Wintermorgens. Der Nebel hängt tief über dem Neckar und kriecht die Fassaden der Weststadt empor.
Der Sessel ist leer. Doch seit jenem Donnerstag habe ich mich nicht mehr getraut, mich hineinzusetzen.
Es kommt mir wie ein Sakrileg vor, den Platz einzunehmen, den Barney als seinen letzten Ruheort gewählt hatte. Der Samt scheint noch immer die Mulde seines kleinen Körpers zu bewahren.
„Man gewöhnt sich an alles“, sagt man oft.
Das ist eine Lüge. Man gewöhnt sich an den Lärm, ja. Aber an die Stille, die darauf folgt, gewöhnt man sich nie.
Plötzlich klingelte es. Nicht an der Wohnungstür, sondern unten am Haupteingang. Die Gegensprechanlage krächzte.
„Herr Albers? Sind Sie da? Ich bin’s, Lena.“
Ihre Stimme klang gehetzt, brüchig. Ich drückte den Summer und öffnete meine Wohnungstür einen Spaltbreit.
Schritte hasteten das Treppenhaus hinauf. Es war das schnelle Poc-Poc-Poc ihrer Turnschuhe, auf das Barney nie gewartet hatte.
Lena stand vor mir, die Wangen gerötet von der Kälte. In den Armen hielt sie einen Karton, der so schwer aussah, dass ihre Knöchel weiß hervortraten.
„Entschuldigung für die Störung“, keuchte sie.
„Aber ich… ich wusste nicht, wohin damit. Der Keller ist feucht, und oben in meiner Wohnung… ich bringe es nicht übers Herz.“
Ich trat beiseite.
„Kommen Sie rein, Lena. Der Kaffee ist noch frisch.“
Sie stellte den Karton auf meinen Esstisch, direkt neben die akkurat gefaltete Zeitung. Es roch plötzlich nach altem Papier, Lavendel und einem Hauch von Mottenkugeln.
„Das sind Opas Sachen“, sagte sie und starrte auf die Kiste.
„Ich habe angefangen, die restlichen Kartons auszuräumen. Das meiste ist… naja, alter Kram. Aber das hier… das sind seine Tagebücher. Und Fotoalben.“
Sie sah mich hilflos an. Ihre Augen waren gerötet, nicht mehr vom Weinen um Barney, sondern von dieser erschöpfenden Trauer, die einen in der Vorweihnachtszeit überfällt.
„Ich kann sie nicht lesen“, gestand sie leise.
„Ich habe es versucht. Aber es tut zu weh. Er hat so viel geschrieben. Über Oma. Über den Krieg. Über… diese Wohnung.“
Mein Herz machte einen kleinen Stolperer.
„Über diese Wohnung?“
„Ja. Er hat sie geliebt. Er nannte sie immer seine ‚Festung gegen die Zeit‘.“
Sie schob den Karton sanft in meine Richtung.
„Sie wohnen jetzt in seiner Festung, Herr Albers. Vielleicht… vielleicht macht es Ihnen weniger aus, darin zu blättern. Ich will nichts wegwerfen, was wichtig sein könnte.“
Es war eine seltsame Bitte. Einem fast Fremden die Gedanken des eigenen Großvaters anzuvertrauen. Aber seit Barneys Tod war das „Fremde“ zwischen uns verdunstet.
„Ich werde sie verwahren, Lena“, sagte ich. „Und wenn Sie so weit sind, schauen wir sie uns gemeinsam an.“
Sie nickte dankbar. Dann fiel ihr Blick auf den grünen Sessel im Erker. Ein trauriges Lächeln huschte über ihr Gesicht.
„Er fehlt, oder?“
„Jeden Morgen um 7:15 Uhr“, antwortete ich ehrlich.
Sie zögerte, dann griff sie in ihre Jackentasche.
„Ich habe noch etwas gefunden. Im Karton. Ganz unten.“
Sie zog einen kleinen, messingfarbenen Gegenstand hervor. Es war ein alter Schlüssel, verziert und schwer.
„Da hängt ein Zettel dran“, sagte sie und reichte ihn mir.
Auf dem vergilbten Papier stand in einer engen, steilen Sütterlin-Schrift nur ein einziges Wort: Geheimfach.
„Ich habe in meiner Wohnung gesucht“, sagte Lena. „Kein Schloss passt. Ich habe keine Ahnung, wo dieser Schlüssel hingehört.“
Ich nahm den Schlüssel. Er war kühl und schwer in meiner Hand. Ich betrachtete den Bart des Schlüssels, die feinen Einkerbungen.
Dann wandte ich den Kopf und sah zum grünen Sessel.
Eine Erinnerung blitzte auf. Barney. Wie er oft nicht auf dem Kissen lag, sondern an der Seite des Sessels kratzte. Immer an derselben Stelle, tief unten an der breiten Lehne.
Ich hatte immer gedacht, er wollte seine Krallen schärfen.
„Lena“, sagte ich langsam. „Kommen Sie mal mit.“
Ich ging zum Sessel und kniete mich auf den Dielenboden. Lena folgte mir verwirrt.
„Dieser Sessel“, murmelte ich und strich über das dunkle Holz der Armlehne.
„Ich habe ihn Ihrem Großvater nicht direkt abgekauft. Er blieb in der Wohnung stehen, als ich einzog. Der Vermieter meinte, er sei zu schwer für das Pflegeheim.“
Ich tastete die Seite ab. Dort, wo das Holz in den Rahmen überging, war eine feine Naht. Jahrelang hatte ich sie für Dekoration gehalten.
Genau auf Höhe der Stelle, an der Barney immer gekratzt hatte, fühlte ich eine winzige Vertiefung. Ein Schlüsselloch, verborgen unter einer drehbaren Holzrosette.
Lena hielt den Atem an.
Mit zitternden Fingern schob ich die Rosette beiseite. Das Messing glänzte matt. Ich steckte den Schlüssel hinein.
Er glitt hinein wie in Butter. Ein sattes Klack, dann sprang ein schmales Fach an der Seite des Sessels auf.
Es war kein Schatz aus Gold und Diamanten, der dort zum Vorschein kam.
Darin lag eine einzige, bauchige Flasche Cognac, dunkel wie Bernstein, bedeckt vom Staub der Jahrzehnte. Und darunter ein Briefumschlag.
Auf dem Umschlag stand: „Für den, der nach mir hier sitzt.“
Lena stieß einen kleinen Schrei aus und schlug die Hände vor den Mund. Ich zog den Brief vorsichtig heraus.
„Soll ich…?“ fragte ich.
Lena nickte nur, unfähig zu sprechen. Ich öffnete den Umschlag und begann laut vorzulesen.
„Werter Nachfolger,
wenn Sie dies lesen, habe ich meinen Platz geräumt. Vermutlich haben Sie den Sessel behalten, sonst hätten Sie das Fach nie gefunden. Das spricht für Sie.
Dieser Cognac ist von 1954. Ich habe ihn gekauft, als meine Tochter geboren wurde. Ich wollte ihn trinken, wenn sie heiratet. Aber wir haben es im Trubel vergessen.
Dann wollte ich ihn trinken, als meine Frau starb. Aber ich wollte nicht alleine trinken. Also blieb er hier.
Wenn Sie diesen Brief finden, dann sitzen Sie in meinem Sessel. Vielleicht fühlen Sie sich allein in dieser großen Wohnung.
Aber wissen Sie: Einsamkeit ist nur dann schlimm, wenn man vergisst, dass man Teil einer Geschichte ist. Sie sind jetzt Teil der Geschichte dieser vier Wände.
Trinken Sie ein Glas auf das Haus. Und falls mein alter Kater Barney noch lebt und Ihnen auf die Nerven geht – geben Sie ihm etwas Sahne.
Er ist ein sturer Bock, genau wie ich, aber er hat ein treues Herz. Er weiß, wo er hingehört.
Passen Sie auf das Licht im Erker auf. Im Dezember, gegen 16 Uhr, fällt es so herein, dass der ganze Raum golden wird.
Leben Sie wohl. Egon.“
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