Jeden Morgen, pünktlich um 7:15 Uhr, kratzt er an meiner Tür mit der Empörung eines Hausbesitzers, dessen Schlüssel nicht mehr passt. Dabei vergisst er ein entscheidendes Detail: Er wohnt hier nicht mehr.
In Heidelberg gibt es diese alten Altbauwohnungen in der Weststadt, wo die Decken so hoch sind, dass sich die Einsamkeit darin besonders gut ausbreiten kann.
Ich wohne hier seit fünf Jahren. Ich bin ein Mann der Gewohnheiten: Filterkaffee am Morgen, die Rhein-Neckar-Zeitung auf dem Tisch und die Stille, die nur vom Knarren des Dielenbodens unterbrochen wird.
Doch seit drei Monaten hat meine geordnete Einsamkeit Risse bekommen.
Es begann an einem klaren, eiskalten Dienstag. Ich öffnete die Wohnungstür, um nach der Post zu sehen, als ein rot-grauer Schatten an meinen Beinen vorbeihuschte. Keine Panik, kein Zögern. Das Tier marschierte herein, durchquerte den Flur mit dem schweren Gang eines alten Mannes und sprang – mit einiger Mühe – direkt auf meinen grünen Ohrensessel am Fenster, dorthin, wo die Morgensonne einen warmen Fleck auf das Polster malte.
Er sah mich mit trüben, bernsteinfarbenen Augen an, die im Gegenlicht aufleuchteten, und stieß ein heiseres Maunzen aus. Ein Tonfall, der keine Bitte war, sondern eine Beschwerde beim Personal: „Na endlich. Wo bleibt der Service?“
Es war der Kater meiner Nachbarin Lena. Eine junge Referendarin, immer im Stress, immer freundlich, aber flüchtig. Als ich ihr den Kater beim ersten Mal zurückbrachte, war es ihr sichtlich unangenehm.
„Oh Gott, Herr Albers, das tut mir so leid! Das ist Barney. Er ist schon 18, wissen Sie. Er wird langsam etwas wunderlich. Er vergisst einfach, wo er hingehört.“
Ich winkte ab. Keine große Sache. Aber am nächsten Tag, punkt 7:15 Uhr, kratzte Barney wieder. Und am Tag darauf auch.
Es wurde zu unserem stillschweigenden Abkommen. Ich öffne. Er tritt ein, ignoriert mich geflissentlich, inspiziert die Fußleisten auf Staub und legt sich dann auf den grünen Sessel für sein Vormittagsschläfchen.
Anfangs versuchte ich es noch mit Vernunft: „Hör mal, Dicker. Du wohnst gegenüber. Hier ist Nummer 4, nicht Nummer 5.“ Er antwortete mit einem genervten Seufzer, drehte mir den Rücken zu und schlief ein.
Irgendwann hörte ich auf, ihn zu korrigieren. Wenn er beschlossen hatte, dass mein Wohnzimmer sein Königreich war, wer war ich dann, ihm zu widersprechen?
Heimlich begann ich, beim Metzger hochwertiges Futter zu kaufen. Ich redete mir ein, es sei nur Mitleid, damit er mir nicht vom Polster kippt. Aber in Wahrheit genoss ich die Anwesenheit eines anderen Lebewesens, das nichts von mir forderte außer Existenz.
Barney ist ein seltsamer Untermieter. Er spielt nicht. Er schmust nicht. Er wartet. Stundenlang starrt er zur Wohnungstür, die Ohren gespitzt, als lausche er auf einen ganz bestimmten Schritt im Treppenhaus, den ich nie höre.
„Auf wen wartest du, Barney?“ fragte ich ihn manchmal.
Er rührte sich nicht. Er wartete nicht auf Lenas hastige Turnschuhe. Er wartete auf einen langsameren, schwereren Tritt.
Und dann kam dieser Donnerstag im November. Einer jener seltenen Tage, an denen der Himmel über Heidelberg strahlend blau ist, aber die Luft vor Kälte klirrt. 7:15 Uhr. Nichts. 7:30 Uhr. Stille. Kein Kratzen. Kein forderndes Maunzen.
Mein Kaffee schmeckte bitter. Ich versuchte zu lesen, aber der leere grüne Sessel, auf dem die Sonne vergeblich wartete, wirkte plötzlich wie ein Vorwurf. Die Stille in der Wohnung war nicht mehr friedlich, sie war dröhnend.
Um 9:00 Uhr brach ich mit meiner eisernen Regel der bürgerlichen Zurückhaltung: Ich klopfte unangemeldet bei der Nachbarin.
Lena öffnete. Sie hatte verweinte Augen. Im Flur sah ich die Transportbox stehen.
„Es sieht schlecht aus, Herr Albers“, flüsterte sie. „Der Tierarzt war gerade da. Nierenversagen. Er… er steht nicht mehr auf.“
Ich trat ein. Barney lag auf einer Decke, atmete schwer und rasselnd. Er wirkte so klein, nur noch ein Häufchen Fell und Knochen.
„Ich verstehe das nicht“, schluchzte Lena leise. „Er ist so unruhig. Ich habe ihm alles hingelegt, aber er scheint etwas zu suchen. Er findet keine Ruhe.“
Ich sah den Kater an, dann sah ich mich in Lenas Wohnung um. Sie war modern, hell, IKEA-Möbel. Ganz anders als meine. Dann traf mich die Erkenntnis.
„Lena… wie lange wohnen Sie schon in dieser Wohnung?“
„Zwei Jahre.“
„Und wer wohnte vorher in meiner?“
Sie sah mich verwirrt an.
„Das war mein Großvater, Egon. Barney war sein Kater. Als Opa starb, habe ich Barney genommen und bin in die frei gewordene Nachbarwohnung gezogen, weil die Miete günstiger war.“
Da war es. Barneys Verwirrung war keine Demenz. Es war Treue.
Meine Wohnung. Das war fünfzehn Jahre lang sein Zuhause gewesen. Der grüne Ohrensessel? Den hatte ich dem Vermieter abgekauft, weil er so perfekt in den Erker passte. Er gehörte Egon. Barney hatte sich nie in der Tür geirrt. Jeden Morgen ging er nach Hause. Er kehrte in die Welt zurück, in der sein Mensch noch lebte. Er kam nicht zum Schlafen; er kam, um Wache zu halten.
Ich legte Lena sanft die Hand auf die Schulter.
„Lena, erlauben Sie mir etwas Verrücktes?“
Ich wartete ihre Antwort nicht ab. Vorsichtig hob ich Barney hoch. Er war federleicht. Er öffnete ein trübes Auge und brummte schwach. Ich trug ihn über den Flur. Ich öffnete meine Tür. Der Geruch meiner Wohnung – seiner Wohnung – schlug uns entgegen: altes Holz, Bohnenwachs und kalter Rauch. Ich spürte, wie sich sein kleiner Körper in meinen Armen entspannte.
Ich legte ihn auf den grünen Samtsessel. Draußen badete die Stadt in fahlem Novemberlicht. Drinnen tanzten die Staubkörner in den Sonnenstrahlen, die durch das hohe Fenster fielen.
Barney atmete tief ein. Er rieb seinen Kopf ganz leicht an der Lehne, genau dort, wo der Stoff abgewetzt war. Er schloss die Augen. Das nervöse Zittern hörte auf.
Er war heimgekehrt.
Lena stand im Türrahmen und weinte leise. Ich setzte mich auf den Dielenboden neben den Sessel und kraulte den Kopf des alten Katers.
„Ist gut, Dicker“, flüsterte ich. „Er ist da. Alles ist gut.“
Er begann zu schnurren. Es war ein leises, brüchiges Geräusch, wie ein altes Uhrwerk, das zum letzten Mal aufgezogen wird. Er streckte eine Pfote aus, krallte sie sanft in den Samt und schlief ein, gewärmt von der Sonne und der Erinnerung.
Er ging eine Stunde später, friedlich, im Sessel seines Herrn, getröstet von der Illusion, dass Liebe niemals wirklich auszieht.
Wir haben ihn am nächsten Tag im großen Garten von Lenas Eltern im Odenwald begraben. Seitdem kommt Lena ab und zu auf einen Kaffee rüber. Aber morgens, um 7:15 Uhr, ertappe ich mich immer noch dabei, wie ich zur Tür sehe. Der Sessel ist leer, aber etwas ist geblieben.
Man sagt oft, das Alter sei ein dunkler Ort, und das Vergessen eine Tragödie. Aber vielleicht hatte Barney recht. Vielleicht muss das Herz manchmal die Realität vergessen, um den Weg zurück zu finden – dorthin, wo man geliebt wurde.
Er hatte sich nie in der Tür geirrt. Er hat mir nur gezeigt, dass vier Wände kein Zuhause machen. Es ist die Liebe, die wir darin zurücklassen, die das Fundament zusammenhält.
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