Ich steuerte den Autohof Baden-Baden an. Der Parkplatz war voll. Lkw an Lkw, eine Festung aus Planen und Stahl. Motoren liefen im Standgas, Kühlaggregate brummten ihren ewigen Rhythmus. Hier schlief Europa. Polen, Rumänen, Spanier, Deutsche.
Ich fand eine Lücke in der letzten Reihe, eigentlich keine echte Parkbucht, aber für eine 45-minütige Pause würde es reichen. Motor aus. Stille. Wieder diese Stille. Ich zog meine Schuhe an, griff mein Waschzeug und stieg aus. Die Kälte schlug mir sofort ins Gesicht, aber sie tat gut. Sie machte wach.
Im Rasthof roch es nach gebratenem Speck und altem Frittierfett. An den Tischen saßen Männer in Jogginghosen und Adiletten, die Augenringe tief wie Schlaglöcher. Ich holte mir einen großen Kaffee, schwarz, und setzte mich an einen Ecktisch.
„Moin“, brummte ein Kollege vom Nebentisch. Ich kannte ihn flüchtig. Micha, fährt Stückgut für eine Spedition aus Kassel. „Moin“, antwortete ich. „Siehst scheiße aus, Thomas. Harte Nacht?“ Ich hielt die heiße Tasse mit beiden Händen fest. „Kann man so sagen. B500. Eis.“ „Ach, hör mir auf mit der B500. Da fahr ich im Winter nicht lang, wenn’s nicht sein muss. Hab gehört, die war voll gesperrt heute Nacht?“ Ich nickte und nahm einen Schluck. Er brannte auf der Zunge. „Ja. Unfall.“
Ich hätte es ihm erzählen können. Von der Frau. Dem Baby. Dem Heldenmoment. Micha hätte mir auf die Schulter geklopft, die anderen hätten rübergehört, ich wäre für fünfzehn Minuten der König des Rasthofs gewesen. Aber ich schwieg. Es fühlte sich falsch an, daraus eine Lagerfeuergeschichte zu machen. Dieser Moment dort oben im Wald, als die Frau meine Hand nahm, als wäre ich ein Engel aus Chrom und Diesel – der gehörte mir. Und ihr.
„Ja, scheiß Wetter“, sagte ich stattdessen nur. „Aber was willste machen. Der Diesel muss fließen.“
Micha nickte wissend und biss in sein Brötchen. „So is es. Immer weiter.“
Ich trank aus und ging zurück zum Lkw. Der Osten färbte sich langsam grau, dann blassrosa. Der neue Tag kündigte sich an. Die Welt erwachte, und mit ihr der Wahnsinn auf den Straßen. Ich kletterte in mein Führerhaus hoch. Mein Reich. Drei Meter über dem Boden.
Bevor ich den Motor startete, nahm ich mein Handy. Ich scrollte durch die Kontakte. Ganz nach unten. Lena (neu). Ich hatte die Nummer von meiner Ex-Frau bekommen, vor einem Jahr. Ich hatte sie nie gewählt. Was sollte ich auch sagen?
Ich starrte auf das Display. Mein Daumen schwebte über dem grünen Hörer-Symbol. Die Angst vor der Ablehnung war größer als die Angst vor Blitzeis am Abgrund. Aber dann fiel mein Blick auf den kleinen, blauen Fäustling auf dem Armaturenbrett. Ich hatte ihn vergessen, der Mutter mitzugeben.
Ich habe einen guten Ausblick – mir entgeht so schnell nichts, hatte ich zu der Frau gesagt. Vielleicht war es Zeit, nicht nur auf die Straße zu schauen, sondern auch auf das, was ich zurückgelassen hatte.
Ich drückte auf den grünen Hörer. Es tutete. Einmal. Zweimal. Dreimal. Mein Herz hämmerte gegen meine Rippen wie ein Kolben, der kurz vor dem Fresser steht. Leg auf, dachte ich. Sie geht eh nicht ran. Es ist sechs Uhr morgens.
„…Ja?“ Die Stimme war verschlafen, aber ich erkannte sie sofort. Sie klang wie ihre Mutter. Ich räusperte mich. Meine Kehle war trocken. „Hallo Lena“, sagte ich leise. „Hier ist… hier ist Papa.“
Stille am anderen Ende der Leitung. Länger als die Stille im Wald. „Papa?“, fragte sie schließlich. Es klang nicht wütend. Nur überrascht. Und vorsichtig. „Ja. Ich… ich bin gerade in der Nähe von Baden-Baden. Ich wollte nur… ich wollte nur wissen, ob es dir gut geht.“ Ein kurzes Zögern. „Mir geht es gut. Ich muss gleich zur Arbeit. Warum rufst du an? Ist was passiert?“
Ich blickte durch die Windschutzscheibe auf den Parkplatz, wo die ersten Kollegen ihre Lkws starteten. Rauchwolken stiegen in den kalten Morgenhimmel. „Nein“, log ich. „Nichts Schlimmes. Ich habe nur heute Nacht etwas gesehen, das mich daran erinnert hat, wie schnell alles vorbei sein kann. Und dass man manchmal… dass man manchmal einfach anhalten und nachsehen muss, ob noch alles in Ordnung ist.“
Ich hörte sie atmen. „Bist du… bist du bald mal in der Gegend?“, fragte sie leise. Mir schossen die Tränen in die Augen. Echte, heiße Tränen, die über meine stoppeligen Wangen liefen. „Nächste Woche“, sagte ich mit fester Stimme. „Nächste Woche habe ich eine Tour Richtung Norden. Ich könnte einen Umweg machen. Wenn du willst.“ „Ja“, sagte Lena. „Das würde ich gerne. Aber Papa?“ „Ja?“ „Fahr vorsichtig.“
Ich lächelte. Ein echtes Lächeln. „Das mache ich, Kleines. Das mache ich immer.“
Ich legte auf. Ich startete den Motor. Der Diesel erwachte zum Leben, ein sattes, kraftvolles Grollen, das sich durch den Sitz direkt in meinen Rücken übertrug. Ich legte den Gang ein und rollte langsam vom Hof, hinein in den morgendlichen Berufsverkehr.
Die Autobahn war voll. Rechts die Lkws, eine endlose Perlenschnur aus Logistik. Links die Pkw, dicht an dicht, blinkend, drängelnd. Ich sah einen grauen Audi im Rückspiegel, der wild gestikulierte, weil ich mit 85 km/h einen Kollegen überholte, der nur 80 fuhr. Das berühmte Elefantenrennen. Für ihn waren es kostbare dreißig Sekunden seines Lebens, die ich ihm stahl.
Ich sah ihn im Spiegel an. Er schäumte vor Wut. Ruhig Brauner, dachte ich. Ich bin kein Hindernis. Ich bin dein Schutzengel, der gerade Pause macht.
Ich bin Thomas. Ich bin 54 Jahre alt. Ich habe heute Nacht zwei Leben gerettet und vielleicht angefangen, mein eigenes zu reparieren. Wenn ihr mich also das nächste Mal seht, wie ich langsam den Berg hochkrieche oder euch die Sicht versperre, dann flucht ruhig. Hupt, wenn es euch besser fühlen lässt.
Aber vergesst eines nicht: Da oben in der Kabine sitzt kein Roboter. Da sitzt ein Mensch. Einer, der friert, der lacht, der weint und der hofft. Einer, der vielleicht gerade an seine Tochter denkt. Und einer, der auf euch aufpasst, auch wenn ihr es nicht merkt.
Wir sehen uns auf der Straße. Haltet Abstand. Und kommt gut an.