Das Blaulicht verblasste in der Ferne, wurde zu einem pulsierenden Punkt in der Dunkelheit und verschwand schließlich ganz hinter den verschneiten Tannenwipfeln. Zurück blieb nur die Nacht. Und die Kälte.
Es war eine seltsame Stille, die nun herrschte. Nicht die friedliche Ruhe, die man sich in einem verschneiten Winterwald vorstellt, sondern eine schwere, fast drückende Stille. Sie klingelte mir in den Ohren, ein Nachhall des Adrenalins, das langsam aus meinem Körper wich.
Ich saß noch immer auf dem Fahrersitz, die Hände fest um das Lenkrad gekrallt, obwohl der Motor im Leerlauf tuckerte. Meine Kabine, mein Zuhause auf vier Rädern, roch anders als sonst. Der vertraute Geruch von kaltem Kaffee, Wunderbaum und Diesel hatte Gesellschaft bekommen: Ein Hauch von feuchter Wolle und dem süßlichen, metallischen Geruch von Angst, der an der jungen Mutter gehaftet hatte, hing noch in der Luft. Auf dem Beifahrersitz lag noch immer der Abdruck ihres Körpers auf dem Polster, und am Boden lag ein einzelner, kleiner Fäustling. Hellblau. Er musste dem Baby gehören.
Ein Klopfen an meiner Fahrertür ließ mich zusammenzucken.
Ich kurbelte das Fenster herunter. Ein junger Polizist stand auf dem Trittbrett, den Kragen seiner Uniformjacke hochgeschlagen, das Gesicht gerötet von der eisigen Luft.
„Herr… Thomas, richtig?“, fragte er und leuchtete kurz auf seinen Notizblock.
„Ja“, brummte ich. Meine Stimme klang rau, fremd in meinen eigenen Ohren.
„Die Kollegen vom Abschleppdienst brauchen noch etwa zwanzig Minuten, um die Straße wieder freizugeben. Der Kran muss anrücken. Das Auto liegt tief.“ Er zögerte kurz, dann sah er mir direkt in die Augen. Es war nicht der herablassende Blick, den ich oft bei Verkehrskontrollen erntete – dieser Blick, der fragt, ob ich meine Lenkzeiten eingehalten habe oder ob ich Alkohol getrunken habe.
Es war ein Blick voller Respekt. „Das war verdammt gute Arbeit, Thomas. Ohne Sie… nun ja. Die Spurensicherung sagt, bei diesen Temperaturen hätten die beiden keine zwei Stunden überlebt. Das Auto war vom Schnee fast bedeckt.“
Ich nickte nur. „Man tut, was man kann.“
„Fahren Sie vorsichtig weiter. Die Straße zieht weiter unten wieder an. Eisplatten.“
Er klopfte zweimal gegen das Blech meiner Tür – ein internationaler Gruß unter Männern der Straße – und verschwand wieder in der Dunkelheit.
Ich kurbelte das Fenster hoch und griff nach dem blauen Fäustling. Er war winzig. So verdammt winzig. Ich legte ihn behutsam auf das Armaturenbrett, direkt neben meinen Wackeldackel und das Foto, das ich seit zehn Jahren umgedreht liegen ließ, sodass man nur die weiße Rückseite sah.
Ein Blick auf die Uhr: 03:15 Uhr. Mein Zeitplan war im Eimer. Die Logistikzentrale in Hamburg würde toben. Just-in-Time. Das Zauberwort der modernen Wirtschaft, das für uns Fahrer nichts anderes bedeutet als: Fahr, bis du umfällst, und wehe, du stehst im Stau.
Aber in diesem Moment war mir das egal. Sollen sie schreien. Sollen sie mit Vertragsstrafen drohen. Ich hatte heute Nacht etwas geladen, das nicht auf dem Frachtbrief stand: Ein Leben. Zwei Leben.
Ich legte den Gang ein. Die Druckluftbremsen zischten, als ich die Feststellbremse löste. Mein 40-Tonner setzte sich mit einem Rucken in Bewegung, schwerfällig und mächtig.
Die Fahrt die B500 hinunter war ein Tanz auf rohen Eiern. Der Polizist hatte nicht übertrieben. Mein Lkw, beladen mit zwanzig Tonnen Maschinenteilen, schob. Die Physik ist ein gnadenloser Gegner. Wenn diese Masse einmal rutscht, dann rutscht sie. Da helfen kein ABS, kein ESP und keine jahrelange Erfahrung. Da hilft nur Beten.
Ich schaltete den Retarder zu, die verschleißfreie Bremse, aber nur auf die erste Stufe, um die Räder nicht zum Blockieren zu bringen. Meine Augen scannten den Asphalt im Kegel meiner Fernscheinwerfer. Schwarz bedeutete nass. Mattes Grau bedeutete trocken. Aber dieses glänzende, funkelnde Schwarz – das war der Feind. Blitzeis.
Während ich mich durch die Serpentinen manövrierte, begannen meine Gedanken zu wandern. Das Adrenalin war weg, und nun kam die Müdigkeit, der alte Begleiter eines jeden Fernfahrers. Aber es war nicht nur die Müdigkeit. Es war das Bild der Frau.
„Ich dachte, mein Kleiner schläft einfach ein.“
Der Satz hallte in meinem Kopf wider, lauter als das Dröhnen des Motors.
Ich griff nach meiner Thermoskanne. Der Kaffee war nur noch lauwarm und schmeckte bitter, aber ich brauchte das Koffein. Mein Blick fiel wieder auf das umgedrehte Foto auf dem Armaturenbrett.
Zögernd, während ich auf einer geraden Strecke war, streckte ich den Finger aus und drehte es um.
Ein kleines Mädchen lachte mir entgegen. Sie saß auf einer Schaukel, die Zöpfe flogen im Wind. Lena. Fünf Jahre alt war sie auf dem Bild.
Heute war sie siebenundzwanzig.
Ich hatte sie seit fünf Jahren nicht gesehen. Und davor auch nur sporadisch. Weihnachten. Geburtstage, zu denen ich oft einen Tag zu spät kam, mit einem Geschenk von der Tankstelle in der Hand und Ausreden auf der Zunge. „Papa muss arbeiten, Mäuschen. Der Laster fährt nicht von allein.“ „Die Wirtschaft braucht ihre Teile.“ „Nächstes Jahr, Lena. Nächstes Jahr bin ich da.“
Ich war nie da. Ich war immer hier. Auf der A7, der A9, der B500. Ich war der König der Landstraße, aber zu Hause war ich nur ein Gast, der zum Schlafen und Wäschewechseln vorbeikam. Als meine Frau ging, verstand ich es. Als Lena aufhörte, mich anzurufen, verstand ich es nicht.
Zumindest redete ich mir das ein. In Wahrheit wusste ich es genau. Ich war für sie wie einer dieser Pkw-Fahrer: Ich hatte nur den Tunnelblick gehabt. Mein Ziel, meine Fracht, meine Kilometer. Ich hatte die feinen Spuren am Wegesrand übersehen. Die kleinen Enttäuschungen, die leisen Hilferufe, das langsame Abdriften meiner Familie in eine emotionale Kälte, gegen die keine Standheizung der Welt ankam.
Die Frau heute Nacht… sie hatte gekämpft. Sie hatte die Babyschale den Hang hinaufgeschoben, im tiefen Schnee, mit blauen Lippen. Sie hätte alles getan für ihr Kind. Was hatte ich getan? Ich hatte zugelassen, dass die Straße mir alles nahm, und ich hatte mir eingeredet, ich täte es für sie. Um das Haus abzubezahlen. Um das Studium zu finanzieren. Aber Geld wärmt nicht, wenn man im Graben liegt.
Ein Kloß bildete sich in meinem Hals, so dick und hart, dass ich schlucken musste. Meine Augen brannten, und ich redete mir ein, dass es die Übermüdung war.
Kilometer 60. Der Schwarzwald lichtete sich langsam. Die Straße wurde breiter, das Eis wich nassem Schneematsch. Vor mir tauchten Rücklichter auf. Ein BMW, tiefergelegt, nervös hin und her zuckend. Er fuhr 60, wo 80 erlaubt waren. Früher hätte ich geflucht. Ich hätte die Lichthupe betätigt, hätte mich über den „Sonntagsfahrer“ aufgeregt, der mir meinen Schwung am Berg nimmt.
Heute Nacht hielt ich Abstand. Viel Abstand. Fahr ruhig, Junge, dachte ich. Komm an. Egal wann. Hauptsache, du kommst an.
Vielleicht saß auch ein Vater darin. Oder ein Sohn, der erwartet wurde. Wir Trucker schimpfen oft über euch Pkw-Fahrer. Wir nennen euch „Kasperlebuden“ oder „Blechdosen“.
Wir ärgern uns, wenn ihr uns schneidet, um noch schnell die Ausfahrt zu erwischen. Wir hassen es, wenn ihr im toten Winkel klebt, als wolltet ihr Kuscheln. Aber in dieser Nacht sah ich nicht die Blechdosen. Ich sah die Menschen darin. Zerbrechlich. Weich. Ohne einen Stahlrahmen und drei Meter Knautschzone. Ihr seid so verdammt verletzlich da unten.
Gegen 05:30 Uhr erreichte ich die Autobahnauffahrt zur A5. Der Verkehr nahm zu. Die erste Welle der Frühpendler schwappte auf den Asphalt. Gehetzte Gesichter im fahlen Schein der Armaturenbeleuchtung. Mein Magen knurrte. Ich musste meine Pause machen. Nicht nur, weil der digitale Fahrtenschreiber unerbittlich auf die 4,5 Stunden Lenkzeit zurollte, sondern weil ich eine Pause vom Denken brauchte.
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